Interview mit Maria Dabringer zum Zertifikatsprogramm "Diversitätskompetenz"

Interview mit Maria Dabringer zum Zertifikatsprogramm "Diversitätskompetenz"

Das Zertifikatsprogramm "Diversitätskompetenz" startet erstmals im Wintersemester 2023/24 an der Universität Wien. Die wissenschaftliche Leiterin, Maria Dabringer, beantwortet in diesem Interview häufig gestellte Fragen.

Wenn von Diversität die Rede ist, was ist damit genau gemeint?

Dabringer: Diversität kommt vom Lateinischen diversitas und bedeutet Mannigfaltigkeit, Vielfalt, Verschiedenheit. Der Terminus wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekannt durch u.a. naturwissenschaftlich geprägte Nachhaltigkeitsdebatten und den damit in Verbindung stehenden Biodiversitätsbegriff. Sozialwissenschaftlich interessant wurde er durch dessen Verwendung durch die Anti-Diskriminierungs- und Gleichberechtigungsbewegung der 1960 und 1970er Jahre in den USA. Im sozialwissenschaftlichen Kontext bezeichnet er das Erleben von Unterschieden zwischen Menschen sowie deren Gemeinsamkeiten (wie z.B. Alter, biologisches und soziales Geschlecht, sexuelle Orientierung, Herkunft, Familienstand, Aussehen, Gewohnheiten, religiöse oder weltanschauliche Verortung). Nicht mehr und nicht weniger.

Warum sind Informationen über Diversität und Diversitätskompetenz gesellschaftlich bedeutsam ?

Dabringer: Ich sehe Diversitätserfahrungen als selbstverständlichen Teil des sozialen Lebens, die es in erster Linie ermöglichen, sich selbst und die jeweils eigenen identitätsstiftenden Aspekte in Auseinandersetzung mit anderen kennenzulernen. Somit wird Selbstreflexion gefördert und ein gedeihliches soziales Zusammenleben ermöglicht. Verschränkt damit, ist es wichtig, sich mit Diskriminierungserfahrungen, die auf eben diesen sozialen Unterschieden basieren, auseinanderzusetzen und im besten Fall an deren Abbau zu arbeiten.

Eine Qualifizierung im Bereich "Diversitätskompetenz" ist für uns als Initiator*innen nicht nur ein gesellschaftspolitisches Signal, wir sind auch überzeugt, dass dies mittel- und langfristig gesellschaftlicher Diskriminierung, Ausgrenzung und sowohl offenen als auch versteckten Rassismen entgegenwirkt - schon allein durch die Stärkung der Netzwerke, die ein solcher Kurs für die Teilnehmenden mit sich bringt.

Welche Motive gab es Ihrerseits, diesen neuen Zertifikatskurs an der Universität Wien zu etablieren?

Dabringer: Die Motivation, das Zertifikatsprogramm "Diversitätskompetenz – Weiterbildungsprogramm zur Stärkung von Sozial-, Arbeits- und Führungskompetenzen" zu initiieren, ergab sich aus der Überzeugung, dass ein kompetenter und bewusster Umgang mit gesellschaftlicher Diversität integraler Bestandteil der Sozialkompetenzen von Menschen sein sollte und dass es dafür einen - in dieser Form noch nicht existierenden - Lehr- und Lernraum benötigt. Das übergeordnete Ziel des vorliegenden Kurskonzepts ist es, menschenrechtlich-orientierte bzw. anti-diskriminatorische Ansätze zur Diversitätssensibilisierung (Awareness- und Skill Building-Maßnahmen) sowie betriebswirtschaftliche Konzepte (wie u.a. Gender & Diversitätsmanagement-Maßnahmen) gleichermaßen einzubinden und verschränkt zu behandeln, um die Vielseitigkeit und Komplexität des Diskurses abzubilden.

Das Kurskonzept ist deshalb bewusst intensiv gewählt, um eine nachhaltige und wissenschaftlich fundierte sowie praxisorientierte Auseinandersetzung mit dem Thema zu ermöglichen. Es gibt bereits Kurse, die sich mit Diversität auseinandersetzen, meist sind diese aber entweder eher kurz und kompakt gehalten, z.B. ein Wochenende oder maximal zwei bis drei Tage lang. Oder es handelt sich um verstärkt menschenrechtlich-orientierte Herangehensweisen wie Antirassismus-Trainings bzw. Diversitätsmanagement-Seminare, die sich auf die organisationale Umsetzung fokussieren.

Das Zertifikatsprogramm soll einzelne als auch Gruppen in ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement stärken, Vielfalt von Arbeits-, Organisations- und Lebenswelten sichtbar und verstehbar machen – innerhalb und außerhalb des Kursgeschehens. Eigene Diskriminierungserfahrungen der Teilnehmer*innen und jene anderer sollen zuordenbar und damit ein Perspektivenwechsel ermöglicht werden. Durch Austausch, Zusammenarbeit, Reflexion und Diskussion werden individuelle Stärken und Unsicherheiten sichtbar. Ich bin überzeugt, dass dadurch die Persönlichkeitsentwicklung und damit auch Sozial-, Arbeits- und Führungskompetenzen gestärkt werden. Damit erfüllt das Programm übrigens auch die Anliegen des Life-Long-Learning-Qualitätsrahmens der Europäischen Kommission.

Inwieweit wird über Diversität und Diversitätskompetenz in Österreich im universitären Rahmen gelehrt?

Dabringer: Über gesellschaftliche Diversität wird an Hochschulen in vielfältiger und auch sehr unterschiedlicher Weise gelehrt, nicht immer aber mit dem expliziten Verweis auf das Schlagwort Diversität. Sozialwissenschaftliche Fächer haben sich immer schon, d.h. nicht erst seit den 2000er Jahren (damals ist das Thema durch verstärktes betriebswirtschaftliches Interesse bekannter geworden) mit Dimensionen gesellschaftlicher Vielfalt und Ausdifferenzierung (wie z.B. Alter, biologisches und soziales Geschlecht, sexuelle Orientierung, Herkunft, Familienstand, Aussehen, Gewohnheiten, religiöse oder weltanschauliche Verortung) auseinandergesetzt. Der aktuelle Diversitätsdiskurs schließt in seiner Vielschichtigkeit an diese im 20. Jahrhundert geleistete Vorarbeit vieler Wissenschaftler*innen an und erweitert die Diskussion mit neuen, aktuellen Erfahrungen und Diskussionen – seien diese privat oder beruflich.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, dass das Thema der intersektionalen, d.h. Mehrfach-Verschränkung von Diskriminierungserfahrungen, vor allem seit den 1990er Jahren ein wichtiges Erkenntnisfeld wurde und seit damals verstärkt in die universitäre Lehre einfließt.

Im universitären Kontext ist sicherlich das wirtschaftswissenschaftlich ausgerichtete, sehr renommierte Institut für Gender und Diversität in Organisationen an der Wirtschaftsuniversität Wien hervorzuheben. Eine andere systematisierte Form der Spezialisierung im Bereich "Diversitätskompetenz" bietet auch die FH Kärnten mit dem Bachelorstudium "Disability & Diversity Studies".

Die verschiedenen relevanten Bereiche, die den Diversitätsdiskurs ausmachen, zusammenzuführen und zu thematisieren, wie wir das auch in unserem Zertifikatskurs machen, kommt in öffentlichen Debatten bzw. im außeruniversitären Kurssetting seltener vor. Im Falle dieses Zertifikatskurses handelt es sich um eine postgraduale Weiterbildung (außerhalb eines Regelstudiums), die möglichst viele Menschen ansprechen und die, auf der Grundlage bereits erworbenen Wissens in anderen Disziplinen, eine komplementäre Kompetenzerweiterung darstellen soll.

Wie können sich menschliche Beziehungen, Aufgaben und Herausforderungen mittels einer diversitätskompetenten Haltung konstruktiv(er) und erfolgreich(er) gestalten bzw. bewältigen lassen? Welche Beispiele gibt es dazu?

Dabringer: Herausforderungen, Konflikte und Probleme, die wir beruflich und privat zu bewältigen haben, werden oftmals durch stereotype Zuschreibungen erklärt, d.h. es werden Vorurteile, was z.B. die Herkunft einer Person betrifft, zur Erklärung für deren Verhalten herangezogen, ohne den sogenannten "unconscious bias" zu hinterfragen, ohne die Person in ihrem Handeln differenziert wahrzunehmen. Menschen werden so auf Gender, Herkunft, Fähigkeiten, Alter, Sprache, etc. reduziert und nicht als komplexe Persönlichkeiten und aktiv Agierende in der entsprechenden Situation gesehen. Diversitätskompetent zu handeln heißt in diesem Fall, eigene Stereotypen in der Situation zu erkennen, davon bewusst Abstand zu nehmen und situationsadäquat auf das Verhalten einer Person zu reagieren. Diese Fähigkeit, über sich selbst reflektiert nachzudenken und damit zur Deeskalation von Konflikten oder zur Gestaltung von Prozessen aktiv beitragen zu können, stärkt auch unsere Resilienz und jene anderer.

Diversitätskompetenz verleiht auch mehr Sicherheit im Umgang mit gesellschaftlichen Problemen: Nach Absolvierung des Kurses sollen die Teilnehmer*innen befähigt sein, sicherer auf andere Menschen zuzugehen. Denn: Menschen möchten in ihren Rollen und Funktionen, die sie privat und beruflich innehaben, sozial-kompetent agieren. Der gesellschaftspolitisch aufgeladene Diskurs über Diversität verunsichert jedoch auch und es entsteht bei vielen die Sorge, z.B. Menschen mit körperlichen Behinderungserfahrungen gegenüber "etwas falsch machen zu können" und im persönlichen Umgang als diskriminierend oder abwertend zu erscheinen. Dies gilt auch für den Umgang mit neuen Begrifflichkeiten, die erst seit kurzem Eingang in den Sprachgebrauch finden (FLINTA-Personen, LGBTQIA+, etc.). Hier soll Abhilfe geschaffen werden.

Menschen möchten wirksam werden und wenn Sie dies diversitätskompetent tun, so ist dies nachhaltiger: Diversitätskompetentes Management berücksichtigt nicht nur klassische Bereiche wie z.B. barrierefreie Zugänge und die Schaffung von all gender-Toiletten, sondern denkt auch über die vielfältigen sozialen Prozesse in Betrieben und Institutionen nach, was letztlich zur bereichernden Repräsentation verschiedener Bevölkerungsgruppen in Unternehmen und zur generellen Verbesserung der Arbeits- und Lebensqualität aller Beteiligter führt.

Welche Beispiele können für die auf der Kurswebseite erwähnte Romantisierung oder Problematisierung des Themas "Diversität" genannt werden?

Dabringer: Gesellschaftliche Diversität ist ein anthropologisches Axiom, das heißt: eine selbstverständliche menschliche Erfahrung. Viele Menschen kennen den Begriff aber nur in Auseinandersetzung mit "einem Problem", das gelöst werden muss. Von populistisch agierenden Gruppen werden Diversitätsthemen oftmals als Synonyme für einen ausschließlich problematisierten Umgang mit "Fremdheit" verwendet.

Zur Romantisierung der "Anderen" oder derjenigen, die als "fremd" wahrgenommen werden, trägt bei, wer jede Form von v.a. sozio-kulturellen Unterschieden grundsätzlich und unhinterfragt positiv annimmt. Diese Haltung hat nichts zu tun mit einer zu begrüßenden grundsätzlich wertschätzenden und humanistischen Einstellung allen Menschen gegenüber. Es geht bei ersterem eher um eine Art der positiven Zuschreibung, die die Anderen nicht differenziert wahrnimmt, sondern wiederum stereotyp reduziert auf die "positiv Anderen". Wichtig ist anzuerkennen, dass Unterschiede (und Gemeinsamkeiten) im sozialen Zusammenleben immer viel Positives bewirken können, aber auch Herausforderungen und Probleme mit ihnen verknüpft sein können. Damit konstruktiv-kritisch umzugehen, jenseits von Vorurteilen und positiv wie negativ aufgeladenen Stereotypen, ist ein Ziel, das Teilnehmer*innen des Zertifikatskurses erreichen sollen.

Dazu zitiere ich aus dem Kurskonzept:

In Zeiten lokaler und globaler Unsicherheiten ist der im Rahmen des Zertifikatskurses angestrebte, "entromantisierte", wissenschaftliche, aufgeklärt-humanistische Umgang mit dem Thema "Diversität" die Basis für ein interdisziplinäres, auf neue Perspektiven und Handlungen fokussiertes Angebot, das Menschen durch Wissen und Information individuell stärkt, zivilgesellschaftliche Netzwerke ermöglicht und Organisationen und ihre Mitarbeiter*innen kompetenter macht.

Ein Modul des Kurses beschäftigt sich u.a. mit dem Thema Diversität und Raum. Um welche Inhalte wird es dabei gehen?

Dabringer: Zum Thema "Raum" ist in unserem Kontext Folgendes zu sagen: Als Kultur- und Sozialanthropologin ist es für mich immer wichtig darauf hinzuweisen, dass wir die Räume, in denen wir leben, die wir gestalten und nutzen, mit Bedeutung(en) aufladen. Bestimmten Gruppen sind bestimmte Räume vorbehalten und zugeschrieben, werden von Menschen aktiv genutzt oder Gruppen sind von bestimmten Räumen ausgeschlossen. Diskriminierungserfahrungen sind an Räume gebunden und darüber kann gesprochen, gelehrt und gelernt werden. Es ist wichtig, ein Bewusstsein für die räumliche Verortung von sozialer Differenzierung zu schaffen. Das spielt bei Barrierefreiheit ebenso eine Rolle wie bei Überlegungen zur sozialen Gestaltung von Wohnbau etc. Daran schließt eine Lehrveranstaltung zum Thema Organisationen und Diversitätsmanagement an, die sich auf der Basis von raumtheoretischen Überlegungen mit organisationalem Diversitätswissen beschäftigt.

 Ist es möglich zu sagen, dass bestimmte Gesellschaftsgruppen besonders diversitätsinkompetent sind?

Dabringer: Eigentlich nein. Aber: Menschen, die eine hohe selbstkritisch-konstruktive Reflexionsbereitschaft haben, haben gute Chancen, auch diversitätskompetent agieren zu können. Die Bereitschaft, Gesellschaft konstruktiv und kompetent mitgestalten zu wollen, ist sicherlich eine gute Basis sowie natürlich das dafür notwendige Diversitätswissen. Das ist übrigens auch ein Ziel des Kurses, all diese Grundlagen bereitzustellen, um die Entwicklung und Stärkung von Diversitätskompetenz zu ermöglichen.